Die traditionelle Ordnung der Kultur – mit klaren Positionen für KünstlerIn/AutorIn, Werk und Publikum, vermittelt durch ProduzentInnen, VerlegerInnen, GaleristInnen etc. – ist durch die Digitalisierung endgültig in eine Krise geraten. Wie die neue Ordnung aussehen wird, ist nach wie vor unklar und höchst umstritten. Die erste Runde der Auseinandersetzung wurde auf dem Gebiet des Urheberrechts und damit über die Kontrolle der Zirkulation ausgetragen. In der aktuellen Runde dreht sich alles um zentrale Plattformen und deren Strukturen von Ordnung, Zugang und Wertschöpfung. Als ProduzentInnen der Kultur stehen KünstlerInnen im Zentrum dieser Umbrüche. Während ein Teil beflissen ist – vermeintlich im Eigeninteresse – die Rechteindustrien bei der Durchsetzung strikterer Gesetze zu unterstützen, verstehen sich andere als Ingenieure einer neuen Ordnung und experimentieren mit der Entwicklung eigener Formen von sozialer Produktion und Zirkulation.
Creative Commons und die Utopie der freien Lizenz
Am 1. Juni 1999 veröffentliche der US-amerikanische Student Shawn Fanning die Software Napster, die es Nutzern erlaubte, sich mit anderen zu verbinden, um untereinander Musik auszutauschen. Vermittelt wurde das Ganze durch einen zentralen Server, der ein aktuelles Verzeichnis bereitstellte, um die angebotenen Files zu durchsuchen und ein bestimmtes Stück irgendwo im Netzwerk zu finden. Kaum ein halbes Jahr später lancierte die Recording Industry Association of America (RIAA) einen Prozess wegen Urheberrechtsverletzung, was die Bekanntheit des Dienstes noch weiter steigerte. Innerhalb von 18 Monaten wuchs die Zahl der NutzerInnen auf über 25 Millionen, eine für die damalige Zeit überwältigend große Zahl. Kurz darauf wurde zwar der Dienst geschlossen, aber nun war es im Mainstream angekommen, wie einfach der digitale Geist aus der Flasche des Eigentums entweichen konnte.
Napster war natürlich nicht das einzige Leck in dieser Flasche. Um die Jahrtausendwende war eine komplexe digitale Kultur entstanden, die sowohl im Amateur- wie auch im professionellen Bereich stark auf Aneignung, Veränderung und Weitergabe bestehender Werke setzte; eine Entwicklung gegen die die etablierten Kulturindustrien mit immer aggressiveren technischen (Digital Rights Management) wie auch rechtlichen Mitteln (Abmahnungen und Klagen) vorgingen.
Vor diesem Hintergrund versammelte sich eine Gruppe liberaler UrheberrechtsspezialistInnen, vor allem aus US-amerikanischen Universitäten, und gründete Creative Commons, einen Baukasten mit Lizenzen, die es KünstlerInnen vereinfachen sollte, ihre Werke den NutzerInnen so zu Verfügung zu stellen, dass Handlungen, die zum digitalen Alltag gehören, erlaubt sind. Ihr Ziel war es, die Urheberrechtspraxis zu modernisieren und an die neuen Gegebenheiten des einfachen Kopierens und Verteilens anzupassen. Entsprechend war und ist bei CC lizenzierten Werken die nichtkommerzielle Weitergabe immer erlaubt, und es steht jedeR AutorIn frei, darüber hinausgehend auch noch die kommerzielle Nutzung und die Veränderung des Werkes frei zu geben. Die Hoffnung dabei war, dass daraus ein Pool von frei verfügbaren Ressourcen entstehen würde, der die Grundlage für neue kreativer Werke bildete.
Der Erfolg dieser Initiative muss allerdings differenziert betrachtet werden. Die Lizenzen von Creative Commons sind zweifelsohne zum globalen Standard auf dem Gebiet der freien Lizenzen für kulturelle Werke geworden. So werden sie nicht nur von Großprojekten wie Wikipedia und anderen Web 2.0-Plattformen standardmäßig verwendet; sie bilden auch die Grundlage von Open Access im akademischen Bereich. Gleichzeitig kann das Projekt als gescheitert angesehen werden, denn es hat kaum etwas dazu beigetragen, die Basis, auf der die freien Lizenzen aufbauen, zu verändern, nämlich das traditionelle Urheberrecht. Nach wie vor fallen alle neu geschaffenen Werke automatisch unter das Urheberrecht, welches immer bis 70 Jahre nach dem Tod der/des AutorIn gilt. Die lange Geltungsdauer ist einer der Hauptkritikpunkte am Urheberrecht, denn viele Werke, für die nach wenigen Jahren kein kommerzielles Interesse mehr besteht, können trotzdem nicht zugänglich gemacht werden und landen stattdessen in Archiven, wo sie dann oftmals wegen nicht-klärbarer Rechte auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Für KünstlerInnen aber wesentlich wichtiger ist die Kritik an den Restriktionen der Bearbeitungen. So läuft weiterhin jedeR KünstlerIn Gefahr mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, wenn sie bereits bestehendes, geschütztes Material collagiert, remixed oder sampelt. Grund für die Schwerfälligkeit in Sachen Urheberrechtsreform sind nicht zuletzt die großen Beharrungskräfte jener, die ihre Existenz an den schwindenden Markt der Urheberrechte binden. Das sind einerseits die großen kulturindustriellen Content-Provider, wie z.B. Film- und Musikindustrie, aber auch StandesvertreterInnen der KünstlerInnen selbst, wie z.B die Verwertungsgesellschaften. Sie führen – nicht nur hier in Österreich – seit langem verbissene, rückwärtsgewandte Kämpfe wie etwa um die Leermedienabgabe, die KünstlerInnen gegen NutzerInnen stellt.
Aber auch auf der vermeintlich progressiven Seite wurden Fehler gemacht, wie im Nachhinein festgestellt werden muss. KünstlerInnen, die verstanden haben, dass eine Kontrolle über die Nutzung immer stärker auch zu einer Kontrolle über ihre Produktion wird, forderten Ausnahmen für die künstlerische Praxis. Wenn sie z.B. auf geschütztes Material als „Rohmaterial“ angewiesen sind, das durch Collage- und Remix-Techniken bearbeitet werden soll, steht immer ein Urheberrechtskonflikt im Raum. Die dann ins Feld geführte Kunstfreiheit trägt allerdings wenig dazu bei, den neuen Formen von Kreativität im Internet und digitaler Autorschaft gerecht zu werden; stattdessen beschwört sie genau jenes autonome Ausnahmesubjekt, von dem sich viele KünstlerInnen gerade abwenden wollen. Und all jenen kreativ Schaffenden, die die Schwelle des professionellen „Künstlerseins“ nicht erklommen haben – was auf die meisten Produzenten digital weiter verarbeiteter Inhalte zutrifft – ist mit der Berufung auf Kunstfreiheit auch in keiner Weise geholfen.
Währenddessen haben sich die Strukturen der digitalen kulturellen Ökonomie radikal verschoben. Mit dem Web 2.0, den sozialen Massenmedien, sind mächtige Player entstanden, deren Ökonomie nicht mehr auf der Beschränkung des Zugangs zu Inhalten durch Urheberrecht beruht, sondern darin, Zugang zu einem unübersehbar großen Pool an kulturellen Produkten zu schaffen. Dabei gestalten sie die Bedingungen so, dass ihre eigenen Profitinteressen im Zentrum stehen, in dem etwa umfangreiche Daten erhoben und ausgewertet werden. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Shoshana Zuboff spricht hier von einem neuen „Überwachungskapitalismus“. Allfällige Urheberrechtskonflikte werden durch jahrelange Prozesse geklärt und dabei die Rechtsprechung subtil verändert (etwa in der Auseinandersetzung Authors Guild, Inc. v. Google, Inc. (2005-2015) um die Frage, ob Google Bücher scannen und dann ausschnittsweise zugänglich machen darf), oder die RechteinhaberInnen werden mit relativ bescheidenen Summen ruhiggestellt (etwa auf Youtube oder Spotify). Viele KünstlerInnen drohen im alles dominierenden Konflikt zwischen den alten und neuen Kulturindustrien unterzugehen.
Creating Commons und die Utopie der freien Gesellschaft
Was durch die zunehmend populärer werdende Diskussion der Commons immer deutlicher wird, ist, dass dem Projekt Creative Commons eine zu enge Vorstellung zugrunde liegt, was eigentlich Commons sind. Bei Creative Commons werden Commons gleichgesetzt mit einem Pool an frei verfügbaren Ressourcen. Was dabei übersehen wird, ist dass Commons vor allem soziale Institutionen sind, die sich um einen Pool von Ressourcen herum bilden. Kollektives Handeln ist dabei ein wesentliches Charakteristikum von Commons und trägt zu einer sozialen Neuorganisation bei. Bei Creative Commons hingegen handelt es sich – in typisch neoliberaler Art – ausschließlich um aggregierte individuelle Handlungen.
In einem über einen langen Zeitraum entstandenen Netz von file sharing Technologien und Schattenbibliotheken ist parallel zu den Ereignissen an der Oberfläche ein gigantischer Pool an Werken entstanden, die der Kontrolle der Rechteinhaber wie auch der kommerziellen Plattformanbieter vollkommen entglitten sind. Darauf bauen einige wegweisende künstlerischen Projekte auf, etwa UbuWeb, das Archiv der Avantgarde, aaarg, eine Textsammlung zum Themenkomplex Architektur, Kunst, Philosophie und Medientheorie, oder 0xdb, eine experimentelle Filmdatenbank, um nur drei zu nennen.
Was all diesen Werken gemeinsam ist, ist dass sie auf eigens gestalteten technischen Infrastrukturen kulturelle Werke für spezifische Interessengruppen zur freien Verfügung stellen. Sie bewegen sich in unterschiedlichen Größenordnungen in Bezug auf NutzerInnen und angebotenen Inhalten und sind selbstverwaltete Projekte von oftmals miteinander vernetzten kleinen Betreibergruppen. Dabei liegen diesen Projekten eine Reihe von gemeinsamen Annahmen zugrunde. Erstens, dass niederschwellige Verfügbarkeit von kulturellen Werken eine Grundbedingung für eine emanzipatorische, künstlerisch produktive kulturelle Ordnung unter den Bedingungen der Digitalität darstellt. Zweitens, dass das Übermaß an verfügbarem Material die etablierten, sinnstiftenden Kontexte erodiert (was man als positiv oder negativ sehen kann) und dass es deshalb notwendig ist, neue Kontexte zu schaffen, in denen qualitative und nicht nur quantitative Bedeutung möglich ist. Und, drittens, dass Kontrolle heute über die flexiblen Modalitäten des Zugangs ausgeübt wird und weniger über die fixen Grenzen des Eigentums – fast so, wie Gilles Deleuze das mit dem Begriff der Kontrollgesellschaft bereits 1990 angedeutet hat. Dieser Art von Kontrolle versuchen sie sich zu entziehen.
UbuWeb, aaarg und 0xdb entwerfen jeweils unterschiedliche Modelle, davon wie unter diesen Bedingungen künstlerische Praxis und kulturelle Institutionen aussehen könnten. UbuWeb bietet ein vollkommen frei zugängliches Webarchiv an, das direkten Zugang zu digitalisierten künstlerischen Werken ermöglicht. Die Sammlung enthält Tausende von Kunstwerken aus den Bereichen bildender Kunst, Tanz, Performance, Sound, konkrete Poesie, Film und Video. Ubu kontextualisiert sie innerhalb kuratierter Sektionen und enthält darüber hinaus begleitende akademische Essays. Obwohl das Projekt ohne jegliches Budget betrieben wird, konnte es sich zu einem der wichtigsten Bezugspunkte für Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts entwickeln; es ist geradezu berühmt dafür, dass man auf Ubu all das finden kann, was man nirgendwo anders findet. Im Rampenlicht des Projektes steht der New Yorker Schriftsteller und Künstler Kenneth Goldsmith, der maßgeblich auch die inhaltliche Ausrichtung bestimmt. Er fühlt sich keinerlei kunsthistorischen Kategorien verpflichtet, sondern kombiniert persönliche Präferenzen mit reinem Pragmatismus.
aaarg ist in seiner Ausrichtung deutlich anders gelagert. Die Sammlung von weitgehend theoretischen und akademischen Texten zu den klar definierten Themenbereichen Architektur, Kunst, Philosophie und Medientheorie hat sich aus einer selbstorganisierten Schule entwickelt, der Public School. Die ersten Bestände bildeten die Arbeitsmaterialen der verschiedenen Arbeits- und Lesegruppen und erst allmählich entfaltete die nur für eingeladene Nutzer zugängliche Datenbank eine Dynamik jenseits des unmittelbaren pädagogischen Umfeldes. Dennoch erklären sich wichtige Aspekte von aaarg aus seiner Geschichte. So sind es die NutzerInnen selbst, die die Inhalte zusammenstellen und hochladen; sie kommentieren und diskutieren die Texte und legen persönliche Sammlungen an. Der Aspekt von Interaktion und community-building stellte immer ein Hauptmerkmal des Projektes dar. In der Öffentlichkeit vertreten wird das Projekt von Sean Dockray, einem US-amerikanischen Künstler, der ausgehend von einem erweiterten Architektur-Verständnis, damit experimentiert, technische Plattformen zu entwickeln, auf denen sich Menschen begegnen, miteinander diskutieren, Texte und Theorien besprechen können und relevante Inhalte sinnvoll organisiert werden können.
Während UbuWeb und aaarg auf relativ einfachen aber gut durchdachten technologischen Plattformen aufbauen, ist die 0xdb, ein technisch deutlich anspruchsvolleres Projekt. Ausgehend von der Frage, wie mit großen Mengen an Filmmaterial umgegangen werden kann, haben Sebastian Luetgert und Jan Gerber eine komplexe Plattform entwickelt, um Texte (Untertitel, Annotationen) und Film miteinander zu verbinden und durch eine automatisch genierte Timeline und visuelle Fingerprints andere Zugänge zum Film als Material zu ermöglichen.
Bei allen drei Projekten entstehen komplexe Anlagen aus künstlerischer Vision, technologischer Infrastruktur und kollektiven kulturellen Praktiken, die man als neue Formen einer kulturellen Commons bezeichnen kann. Sie geben dabei nicht nur eine Vorstellung davon, was möglich sein könnte, wenn man die alten wie die neuen Kulturindustrien umgeht, sondern liefern auch praktische Beispiele, was das Potential künstlerischer Praxis unter aktuellen materiellen Bedingungen sein könnte. Hier wird eine Praxis entworfen, in dem die künstlerische Praxis als ein Labor für eine zukünftige Gesellschaft gesehen werden kann, in der die Kategorien der klassischen kulturellen Ordnung keine zentrale Rolle mehr spielen.
Cornelia Sollfrank & Felix Stalder, (erschienen in: Blickpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2017, Nr. 44, S.22-5)